DE | EN

Tipp KW 5 – 2022

Das Shingo-Modell – Teil 1

Wirkung und Nutzen für eine wirklich nachhaltige Entwicklung des Unternehmens

Ein häufiger Vorwurf bei der Beurteilung zur Wirksamkeit von Change-Projekten ist, dass die Langlebigkeit von implementierten Änderungen oft nicht nachhaltig ist und die Änderungen im Laufe der Zeit wieder ihre Wirksamkeit und Struktur verlieren. 

Doch woran liegt das? Es scheint so, dass gerade in personalintensiven Unternehmens-bereichen die Dauerhaftigkeit von erreichten Veränderungen, die zunächst in die richtige Richtung gehen, besonders fragil zu sein scheinen. Das Verhalten der Mitarbeiter ändert sich wieder in Richtung der traditionellen Vorgehensweise, oftmals schon sobald die Maßnahmen den Projektstatus verlieren.

Was sind Ursachen dafür? Liegt es nur am (nicht vorhandenen) guten Willen der betroffenen Mitarbeiter? Spielt Tradition eine große Rolle?

Wenn wir uns das Shingo-Modell im Detail betrachten, dann gibt es Indizien dafür, dass die Ursachen für die oben genannten Mechanismen umfassender zu sein scheinen. 

Shigeo Shingo 

Das hier beschriebene Modell wurde von Shigeo Shingo begründet. Er war als beratender Ingenieur in den siebziger Jahren vor allem in Japan und in den USA tätig und beschäftigte sich intensiv mit der Optimierung von Abläufen und Organisationen. Das nach ihm benannte Modell, um das es hier gehen soll, basiert auf seinen Entwicklungen.

Schauen wir uns zunächst an, aus welchen Elementen das Modell besteht. Um wirtschaftliche und betriebliche Ergebnisse zu erzielen, benötigt man primär zunächst zwei Dinge: Systeme und Werkzeuge. 

Werkzeuge

Diese besitzt jedes Unternehmen in Form von Anlagewerten, wie z.B. Gebäuden, Räumen, Hardware, Software und andere Infrastruktur. Weiterhin zählen zu den Werkzeugen aber auch „virtuelle“ Instrumente wie angewendete Management-Methoden (z.B. Value Stream Map, Projektmanagement, Prozessoptimierung etc.). Werkzeuge sind die Grundlage für den Geschäftsbetrieb. 

Systeme 

Das Zweite, was man braucht, um Ergebnisse zu erzielen, sind Systeme. Systeme werden ebenfalls in zahlreichen Formen verwendet. Wichtige Systeme in einer modernen Organisation sind definierte Prozesse und Vorgehensweisen. Jede Organisation, unabhängig von ihrer Größe, verfügt über eine große Anzahl von Systemen. Beispiele hierfür sind Planungssysteme, Systeme zur Vergütungs- und Belohnungssysteme, Messsysteme zur Kundenzufriedenheit und vieles andere.

Komplexe Strukturen und Silobildung

Sobald Unternehmen wachsen, werden die Strukturen komplexer. Es bilden sich Abteilungen und Bereiche heraus, die sich auf eine definierte Aufgabe spezialisieren (Personalabteilung, Finanzwesen, Kundenservice, etc..). In diesem Zuge werden in diesen Abteilungen und Bereichen neue Werkzeuge und Systeme implementiert. 

Diese Bereichsbildung hat große Vorteile und ist in modernen Organisationen unumgänglich. Die negativen Auswirkungen mit Blick auf das Gesamtgefüge ist jedoch die „Silobildung“, also das mehr oder weniger isolierte Agieren dieser Bereiche in ihrem Verantwortungsbereich. Hier besteht die große Gefahr, dass die verschiedenen Bereiche im Laufe der Zeit nicht mehr zu 100 Prozent gemeinsame Ziel verfolgen, isolierte Entscheidungen treffen oder gar gegensätzliche Aktivitäten praktizieren. Die Werkzeuge und Systeme sind nicht vernetzt und haben manchmal keinerlei Schnittstellen. 

In einem solchen Umfeld haben umfassende Change-Vorhaben keine Chance auf eine nachhaltige Umsetzung und selbst die Verfolgung von definierten übergreifenden wirtschaftlichen Zielen auf höchster Ebene (Umsatz, Ertrag, Kosten) ist schwierig. Wir stellen aber fest, dass im Hinblick auf die Gesamtziele große Interdependenzen in Unternehmen bestehen. Mit der Silobildung geht der Verlust von Gesamtkontrolle einher.

Tradition und Verhalten

In einem solchen Umfeld verfestigen sich bei den Mitarbeitern traditionelle Vorgehensweisen, egal ob diese für die zukünftigen Herausforderungen nützlich sind. Jeder Mitarbeiter folgt am liebsten den erprobten Vorgehensweisen seines Bereiches. 

Dafür gibt es zahlreiche Beispiele, die jeder von uns erzählen kann: Da ist die Telesales-Abteilung, in der in den Gesprächen jeder am liebsten seinem eigenen Leitfaden folgt, das mit großer Mühe eingeführte Wissensmanagement-System (WMS) aber nicht verwendet oder aber der Produktbereich des gleichen Unternehmens, der es nicht für nötig hält dieses neue WMS mit immer aktuellen Produktdaten zu füllen, so dass Gespräche mit Kunden am Telefon noch fundierter sein könnten und damit Kompetenz der Mitarbeiter und als Resultat die Kundenzufriedenheit erhöhen würden. 

Wenn ein Bereich eine Veränderung versucht, dann passiert es häufig, dass diese Bemühungen später im Tagesgeschäft schnell wieder durch die traditionellen (gewohnten) Vorgehensweisen im eigenen oder in anderen Bereichen des Unternehmens wirkungslos gemacht werden. 

Shigeo Shingo spricht hier von der „organisatorischen Totenstarre“, in der keine Veränderungen oder Innovationen nachhaltig umgesetzt werden können.

Ergebnisse

Warum existieren Unternehmen und auf welcher Basis entwickeln sie sich weiter, welche Ziele verfolgen sie?

Die Antwort auf diese Frage kann auf eine einfache Formel reduziert werden: Die meisten definierten übergreifenden Ziele von Unternehmen fokussieren sich auf zahlenbasierte Ziele wie Umsatz, Ertrag, Menge, ROI, Marktanteil etc. Das führt leider dazu, dass bei „Non-Profit-Unternehmensteilen“, wie z.B. dem Customer Service, der Personalabteilung etc. diese Ziele in Budgetkosten umformuliert werden. 

Wir reden vom dritten Baustein im Shingo-Modell. Neben den Werkzeugen und den Systemen spielen die Ergebnisse eine sehr wichtige Rolle im Gesamtgefüge und bestimmen das Handeln.

Es ist die klassische Methode zur Erreichung der Ergebnisse, den Umsatz/Ertrag zu steigern und die Kosten zu senken. Doch so kommt es im Rahmen des Shingo-Modells zu einer möglicherweise weiteren signifikanten Fehlentwicklung, denn damit sind Mitarbeiter gleichbedeutend mit Kosten, die im Zuge der Maßnahmen zur Zielerreichung leicht zu minimieren sind. 

Wie wir aus vielen Beispielen kennen, hat die Kostensenkung durch die Reduktion von Mitarbeitern oft negative Auswirkungen auf die Organisation, die Qualität, die Wettbewerbsfähigkeit oder natürlich auch auf die Customer Experience. Es wird oft als notwendiges Übel angesehen und von der Führung akzeptiert, aber intern beschädigen solche Maßnahmen die Moral und Motivation der Mitarbeiter nachhaltig.

Oftmals gehen dabei Leistungsträger und Meinungsbildner in der Organisation verloren, die wichtig sind für Wachstum und Wandel auch in Zukunft, oft einfach, weil sie die „teuersten“ Mitarbeiter der Organisation sind. Nicht selten enden solche Sparprogramme im innerbetrieblichen Chaos, in der die verbliebenden Mitarbeiter sich an den traditionellen Vorgehensweisen festhalten, ja sogar darauf bestehen und jegliche Anpassungen der Werkzeuge und Systeme boykottieren und manchmal sogar aktiv manipulieren. Nicht selten müssen Unternehmen nach massivem Abbau einen Rückzieher machen und die Mitarbeiterverluste durch Neueinstellungen kompensieren.

Warum ist das nun so problematisch für die Organisation? In jedem Unternehmen existiert damit eine bestimmte Kultur, welche die Meinung des Mitarbeiters, das Handeln und das Verhalten im Tagesgeschäft und auch in Change-Prozessen beeinflusst und davon umgekehrt beeinflusst wird. 

Kultur und Verhalten

Und damit ist die Kultur im Unternehmen und das Verhalten der vierte wichtige Baustein im Shingo-Modell. Nur die richtige Kultur und damit das gewünschte Verhalten der Beteiligten Menschen führt zu den richtigen Ergebnissen, sofern Systeme und Werkzeuge zielführend aufgestellt sind. 

Wir stellen also fest, dass das Verhalten und die daraus resultierende Kultur einen zentralen Baustein des Modells darstellen. Die Kultur ist demnach der Ausgangspunkt für erfolgreiche Veränderungen im Unternehmen und beeinflusst die Nachhaltigkeit wesentlich. Nur wenn die Kultur stimmt, kann ein Unternehmen und seine Mitarbeiter Spitzenleistungen erreichen.

Aber ist die Kultur beeinflussbar, ist das Verhalten der Mitarbeiter steuerbar? Dazu sagt das Modell eindeutig, das durch das Aufstellen von Führungs- und Leitprinzipien das Verhalten und letztendlich die Kultur steuerbar ist.

Leitprinzipien

Das nächste Feld, auf der Reise durch das Shingo-Modell sind also die Leitprinzipien. Die Leitprinzipien sind die Substanz, die den Zweck und die Wirksamkeit einer Kultur unterstützt. Leitprinzipien steuern das Verhalten. Die Systeme treiben die Leitprinzipien an (z.B. durch Personalentwicklung, Belohnungssysteme etc.), und die Leitprinzipien wiederum sind die Grundlage für die Auswahl und Ausrichtung der Systeme auf die angestrebten idealen gewünschten Verhaltensweisen.

Die Leitprinzipien helfen darüber hinaus, über Systeme und Werkzeuge die idealen gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Die Leitprinzipien sind das Fundament, das die Konsequenzen oder Ergebnisse vorgibt.

Die Shingo-Leitprinzipien sind in vier logische Gruppen oder „Dimensionen“ unterteilt. Die unterste, grundlegende Dimension heißt „Cultural Enablers“ und umfasst zwei Prinzipien. Der Schwerpunkt liegt auf den Menschen, d. h. auf allen Personen innerhalb der Organisation, sei es auf der Führungsebene, auf der Managementebene oder auf der Ebene der Mitarbeiter. Aber es geht darüber hinaus, indem es alle Interessengruppen betrachtet, die mit dem Unternehmen zu tun haben, einschließlich der Wertschöpfungskette, die Kunden und Lieferanten sowie die Gesellschaft einschließt.

Mit den Shingo-Leitprinzipien werden wir uns in einer der nächsten Folgen weitergehend beschäftigen, denn sie sind der Schlüssel zur erfolgreichen Steuerung.

Entgegen einem schnellen ersten Eindruck ist das Shingo Modell kein theoretisches Denkmodell, sondern kann praktisch gerade in personalintensiven Organisationen leicht angewendet werden. 

Wie immer empfehle ich dabei eine iterative Annäherung an das Thema:

Schritt 1: Erstelle eine Liste aller Werkzeuge im Unternehmen, mache Dir ein Bild von Deiner Organisationsstruktur und ordne die Werkzeuge entsprechend zu.

Schritt 2: Erstelle eine möglichst vollständige Aufstellung der Systeme, ordne wiederum den organisatorischen Einheiten zu und versuche Dir die Komplexität durch Darstellung der übergreifenden Systeme deutlich zu machen. Mache Dir deutlich, ob sich Systeme einander bedingen, unabhängig sind oder gar gegenseitig behindern.

Schritt 3: Erstelle eine Liste der gewünschten Ergebnisse deines Unternehmens. Unterscheide zwischen übergreifenden Zielen und bereichspezifischen Ergebnis-Vorgaben.

Schritt 4: Fasse Deine derzeitigen Führungsgrundsätze und -prinzipien möglichst detailliert zusammen. Unterscheide dabei in Tabellenform zwischen Soll und Ist.

Schritt 5: Fasse die Kultur und das Verhalten Deiner Mitarbeiter möglichst zutreffend zusammen und versuche bereits erstmalig abzuleiten, warum manche Ziele erreicht werden können.

Schritt 6: Du hast Dir nun bereits ein erstes Bild über den derzeitigen Zustand gemacht. Fasse nun einen Plan, wie Du das Thema weiterentwickeln kannst.

Die ganzheitliche Betrachtung des Unternehmen nach dem Shingo Modell ist also ein sehr interessanter Ansatz. Wer das Unternehmen erfolgreich und vor allem nachhaltig entwickeln will, kommt um eine umfassendere Betrachtung der Einflussfaktoren nicht herum.

In dem vorgestellten Modell hat die Beachtung der Menschen, die den Wandel gestalten soll, einen sehr hohen Stellenwert. Nur wer die Mitarbeiter in den Change „mitnimmt“, kann auf deren anhaltende Unterstützung bauen.

Michael Fürst – Consultant

junokai

Um den Tipp der Woche zu abonnieren, klicken Sie hier.