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Tipp KW 35 – 2023

Bots im Kundenservice “Das Beste oder Nichts” vs. “Besser als Nichts”

Bei der Einführung oder Evolution von Bot-Lösungen orientieren sich viele Kundenservice-Einheiten nach den Sternen – zumindest, wenn man es sich finanziell leisten kann und will. Auch liefern sowohl Technologie-Anbieter als auch Integratoren ein Potpourri an Argumenten und wichtigen Features für ihre vermeintlich neue Bot-Lösung ohne die man als Kundenservice-Einheit die vermeintliche Zukunft und Anschluss im Thema AI verpasst – gerne garniert mit tollen Case Studies voller beeindruckender Ergebnisse.

Und ja, es ist selbstverständlich sinnvoll sich an der Spitze zu orientieren, aber es kann ebenso Sinn ergeben die avisierte Lösung einem Faktencheck zu unterziehen und aus einem wirtschaftlichen Pragmatismus neu zu bewerten.

Zunächst einmal sind Bots nicht gleich Bots und hier sprechen wir zunächst nicht über unterschiedliche Touchpoints bzw. Text- oder Voice-basierte Bots, sondern ich denke hierbei eher an die unterschiedlichen Entwicklungsstufen von Bots:

Level 1 – Basic Bots (BAB)

Hier handelt es sich um einfache Bot-Lösungen mit Frage-Antwort-Funktionalität, welche auf bestimmte Schlüsselworte definierte Standardantworten liefern. Manchmal sind sogar die Fragen anhand von Ereignisbäumen vorgegeben und es können keine individuellen Fragen gestellt werden. Es existieren keine Schnittstellen zu Backend- oder weiteren Frontend-Applikationen oder Touchpoints und es erfolgt kein “Lernen” des Bots auf Basis der geführten Dialoge.

Wo kann ein solcher Bot Sinn ergeben? Idealerweise bei sehr standardisierten Kund*innen-Anliegen wie FAQ oder punktuellen Themen (z.B. temporär technische Einschränkungen oder Lieferverzögerungen). Der Vorteil einer solchen Lösung ist die einfache uns sehr kostengünstige Implementierung und Wartung, welche im Verhältnis zu CEX und möglichen Kosteneinsparungen durch Kontaktvermeidung schnell positive ROI generiert.

Level 2 – Virtuelle Assistenten (VAS)

Dieses Level von Bot ist uns allen wohl am geläufigsten, denn wir nutzen diese vermutlich unbewusst auch täglich in Form von ALEXA, SIRI, GOOGLE oder weiteren Anbietern. Diese Systeme verfügen bereits über Anbindungen an Backend- oder Frontend-Systeme ebenso wie Spracherkennung oder der Möglichkeit für Kunden individuelle Fragedialoge zu führen, wobei diese sehr einfach strukturiert bleiben müssen. Ein eigenständiges “Lernen” der Maschine kann, muss aber nicht zwangsläufig gegeben sein. Ebenso erfolgt i.d.R. keine Übergabe von Dialogdaten an einen weiterführenden Bot oder zu einer Weiterbearbeitung durch eine/n Agent*in.

Wo kann ein solcher Bot Sinn ergeben? Da hier bereits Backend- und Frontend-Informationen vorliegen, sind allgemeine und einfache personalisierte Use Cases gut umsetzbar und zeigen gute Ergebnisse. Wichtig hierbei ist, dass für diese Vorgänge eine Identifizierungs-/Authentifizierungsfunktionalität vorhanden ist, welche den aktuellen Richtlinien des Datenschutzes entspricht. Der personelle Aufwand für die Wartung und Anpassung der VAS steigt, so dass hier ein kleines Team, welches auch als Schnittstelle zu den betroffenen Applikationen und APIs fungiert, notwendig ist. 

 Level 3 – Virtuelle Agenten (VAG)

Ab diesem Level werden bereits hoch entwickelte Spracherkennung- und Dialogsoftware im Zusammenspiel mit Natural Language Processing (NLP) eingesetzt, auch für komplexe personalisierte Use Cases. Gleichzeitig bedingen solche Lösungen eine eigene Dialog-, Informations- und Datenbankarchitektur, welche nicht nur die Kund*innen-Daten an sich, sondern auch alle Dialoge nebst Klassifizierung, Interpretation und Ergebnis dokumentiert. Diese werden vom VAG für eigenständiges Lernen sowie Prediction-Modelle genutzt. Auch das Zusammenspiel mit RPA-Hyperautomation von Vorgängen oder der direkte Eingriff sowie Bearbeitung in den Backend-Daten/Systemen sind hier gegeben.

Wo kann ein solcher Bot Sinn ergeben? Hier betreten wir ein Niveau, wo theoretisch bereits der größte Anteil der Kund*innen-Anliegen komplett automatisiert bearbeitet werden kann. Die Gretchenfrage ist dann, ob es aus anderen Gründen (Kundenbindung, mögliche Verkaufsansprache mit höheren Conversions, etc.) gewollt ist, diese Kontakte auch automatisiert oder nicht besser durch einen Menschen zu bearbeiten.

Da wir hier über weitreichende Funktionalität und Überschneidungen sprechen, wird ein dediziertes Team notwendig, welches neben der Use Case Entwicklung und der technischen und inhaltlichen Betreuung der Funktionalitäten auch Anpassungen im Bereich der Kundenkontaktstrategie und Unternehmensprozesse im Blick hat und Insights aus den Bot-Systemen/Dialogen liefern kann.

Level 4 – Digital Humans (DIH)

Nun kommen wir zum äußersten Ende der heute verfügbaren Bot-Technologie und in Bereiche, welche vor wenigen Jahren noch als Science-Fiction abgetan worden wäre. Bots auf diesem Level sind in der Lage hochkomplexe Lösungen eigenständig zu bearbeiten. Sie lernen und entwickeln sich kontinuierlich selbst, liefern Predictions inkl. Analysen/Interpretationen ohne einen menschlichen Eingriff und korrigieren diese auch.

Zusätzlich zu den in der Mehrzahl genutzten Touchpoints sind weitere wie z.B. im Metaverse oder anderen visuellen Interaktionsplattformen vorgesehen um dem “echten” Menschen möglichst nah zu kommen.

Sie sind in der Lage anhand von optischen, sensorischen oder sprachlichen Analysen der Kontaktperson Emotionen zu lesen und ebenso zu spiegeln, also selbst Emotionen zu zeigen und darauf zu reagieren. Aktuell zwar noch auf einem sehr rudimentären Niveau, aber wer hätte vor zehn bis 15 Jahren gedacht, dass man allein mit Sprache über einen Bot Bestellungen, Überweisungen, Buchungen oder Stati hätte abfragen können, dass ich mein Smartphone über biometrische Daten entsperren kann, oder dass ein Bot anhand von einer Röntgenaufnahme viel genauer als ein Arzt Krebs erkennen kann. Und die Entwicklung bleibt extrem schnell.

Fazit

Und auch wenn diese Technologien entweder reizvoll erscheinen oder womöglich Unbehagen auslösen, bleibt die Frage: Welche Bot-Lösung oder welches Level ergibt in meinem konkreten Fall Sinn?

Wie immer gilt: Eine allgemeine Lösung gibt es nicht, dafür sind Kundenservice Organisationen und auch die davon betreuten Produkte und Services zu individuell. Was aber für alle Ansätze oder Überlegungen gilt:

  • Erstellen Sie einen klaren und nachvollziehbaren Business Case auf Basis transparenter KPIs und wirtschaftlicher Zahlen für ihre angedachte Lösung sowie der Alternativen.
  • Bedenken sie hierbei nicht allein die technische Bot-Lösung als Produkt, sondern auch die Aufwände für Implementierung und Auswirkungen auf ihre Organisation wie z.B. Schulungs- oder Rekrutierungskosten für Mitarbeiter*innen mit dem benötigten Knowhow.
  • Prüfen Sie auf welchem Level ihre eigene Organisation im Hinblick auf Prozesse und Potenzial für Automatisierung steht. Viele Use Cases lassen sich ohne viel Aufwand und mit einfachen FAQ lösen oder man identifiziert bei der Analyse die Root Cause und behebt die Kontaktursache.
  • Planen Sie entsprechend Zeit für die Analyse und Implementierung der Lösung und erwarten sie keine sofortigen Effekte. Sowohl Ihre Organisation als insbesondere auch Ihre Kund*innen müssen Zeit haben sich an die neue Lösung zu gewöhnen.

Es muss bei einer Bot-Implementierung oder Evolution im Kundenservice somit nicht immer “Das Beste oder Nichts” heißen. Manchmal ist der Ansatz “Besser als Nichts” der sinnvollere und bietet immer noch die Möglichkeit hierauf aufzubauen.

Carlos Carvalho – Senior Consultant

junokai

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