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Tipp KW 16 – 2019

In den letzten Jahren haben sich der Arbeitsplatz und die Tätigkeit von Agenten im Customer Service grundlegend geändert: 

  • Durch fortschreitende Digitalisierung hat sich die Anzahl der von Kunden genutzten Kontaktkanäle erweitert und immer stärker werden digitale Medien präferiert. 
  • Viele Prozesse wurden digitalisiert und können teilweise schon komplett ohne Einbindung eines Mitarbeiters erfolgen. 
  • Standardisierte Tätigkeiten eines Customer Service Mitarbeiters werden über Robotics (RPA) abgearbeitet und reduzieren so Bearbeitungs- und Zykluszeiten.
  • Künstliche Intelligenz findet immer mehr Einzug in Unternehmen und so werden auch im Customer Service über Prediction-Modelle, Workflow-Logik, Daten-Verknüpfungen und selbst operierenden Lernsystemen Kundenanliegen schon proaktiv erkannt und Lösungen vorbereitet oder sogar unsichtbar für den Kunden gelöst. 
  • Eine Kunden-Authentifizierung erfolgt nicht mehr über Passwörter, sondern biometrischen Daten und KI-Logik, die unter anderem auf Blockchain-Technologie aufbaut.  

Den nächsten Entwicklungsschritt stellt nun die Einführung so genannter „Digitaler Agenten“ (DA) im Customer Service dar. Hierbei handelt es sich im Prinzip über eine KI-Sprach-Schnittstelle aus der Künstlichen-Intelligenz Plattform zum Kunden. Über „Speech-to-Text“ (STT) und „Text-to-Speech“ (TTS) und “Natural-Language-Programming“ (NLP) werden die Logik und Informationen aus dem Kundengespräch mit vorhandenen Daten und Verknüpfung in Echtzeit dem Kunden kommuniziert.

Der Digitale Agent bzw. das System lernt exponentiell mit der Anzahl der Gespräche und so werden in kurzer Zeit die unterschiedlichen Formulierungen und Akzente, Fachbegriffe und Slang für ein und das gleiche Anliegen vom System eindeutig verstanden und gelöst. Gleichzeitig erfolgt durch das System selbstständig anhand der Erkennung stereotypischer Muster der Vorschlag für einen Aufbau von Datenverknüpfungen oder Lösungsmöglichkeiten, um die in Anfragen benötigten Informationen und Moves-and-Changes-Aktionen (MACA) optimierter über den DA zu bearbeiten.      

Die Sprache des Digitalen Agenten ist fließend und nur mit geringen Abweichungen von der Sprache eines echten Menschen unterscheidbar. Wie schnell die Entwicklung in diesem Segment fortschreitet, kann man bereits an Systemen wie ALEXA, SIRI und anderen Sprachinterfaces erkennen. Verglichen mit den Systemen von vor fünf bis zehn Jahren bewegen wir uns jetzt bereits auf einem deutlich höheren Niveau und die Entwicklung schreitet auch hier schnell voran. 

Um eine stärkere Ähnlichkeit zu einem Menschen zu erreichen, werden sogar humane Sprachmuster imitiert, in denen das Gespräch auch mit unterschiedlichen Modulationen, Intonation, Pausen und sogar menschliche „Ähs“ und „Mmmhs“ ergänzt werden. Eine Echtzeitanpassung auf Dialekt und Wortwahl ist ebenso darstellbar. Zusätzlich werden sogar humorvolle menschliche Formulierungen gewählt, die Empathie suggerieren sollen. Beispiel: Eine Kunde formuliert, dass er eine bestimmte Transaktion vergessen hatte und der Digitale Agent antwortet: „Kein Problem, das passiert mir auch manchmal.“

Das sind sicherlich faszinierende aber auch für den einen oder anderen erschreckende Trends und man mag sich fragen, was dies für den Kundenservice der Zukunft bedeutet. 

Da die Entwicklung dieser Systeme sehr rasch fortschreitet, hat eine Langfrist-Prognose nur bedingte Aussagekraft. Stand heute gibt es jedoch limitierende Faktoren, die festzuhalten sind:

  • Die aktuellen DA- und KI-Systeme basieren auf existierenden oder zu definierenden Workflows, Enginge-Rules, Prediction-Modellen und Microservice-Daten-Verknüpfungen. Abweichungen von diesen Workflows werden vom System zwar erkannt, können aber derzeit ohne kontinuierliche „Erziehung“ des Systems nicht korrekt gelöst werden. Zudem gibt es theoretisch kein Limit für mögliche Abweichungen, sodass bei den aktuellen Systemen in solchen Situationen immer eine Weiterleitung an einen humanen Agenten eingeplant werden muss.
  • Trotz allen synthetischen Empathie-Programmierungen der Systeme ist echte Empathie und Verständnis für ein Kundenanliegen nur von einem Menschen darstellbar. Sowohl in kritischen Kundensituationen als auch bei einem Verkaufsgespräch ist menschliches Fingerspitzengefühl gefragt um einen Sachverhalt aus Kundensicht zufriedenstellend zu lösen oder einen optimalen Verkaufserfolg zu erzielen. Ebenso können menschliche Typologien nicht erkannt oder interpretiert werden, um adäquat auf diese zu reagieren.
  • Ein DA- bzw. KI-System arbeitet ausschließlich nach Regeln – Ausnahmen sind nicht vorgesehen. Das hat zwar den Vorteil einer hohen Prozesstreue und Präzision in der Bearbeitung, vermeidet aber auch Wow-Effekte für Kunden, wenn Ausnahmen gewährt werden.
  • Technisch ist zudem eine Spracherkennung aktuell deutlich von der Qualität einer Telefonverbindung abhängig. Ruft ein Kunde mit einer schlechten Verbindung und lauten Hintergrundgeräuschen an, sind die meisten Systeme am Limit, während ein menschlicher Agent noch den Inhalt des Gesprächs versteht. 
  • Ergänzend ist das Ergebnis mehrerer Studien noch interessant: Kommt ein künstliches System einem Menschen näher, wird dieses zunächst als sympathisch oder positiv bewertet. Ab einem gewissen Punkt dieser Näherung kommt es jedoch zu einem so genannten „Uncanny-Valley-Effekt“ wo ein KI-System oder ein Roboter von Menschen als unangenehm oder bedrohlich wahrgenommen wird. Der japanische Robotiker Masahiro Mori* hat dies anhand einer Puppe (Bunraku-Puppe) eindrucksvoll illustriert. Diese wurde immer Menschen-ähnlicher angepasst und ab einem gewissen Punkt der Annäherung einen Menschen von Probanden nicht mehr sympathisch sondern unangenehm empfunden. Das Besondere war, dass eine weitere Annäherung an den Menschen schlagartig dann positive Empfindungen zur Folge hatte. Daher hier auch die Bezeichnung „Uncanny-Valley-Effekt“ (Unheimlich-Tal-Effekt). Eine Herausforderung wird also sein, die Digital Agent Systeme entweder nicht zu nah an diesen Punkt zu bringen oder über diesen Punkt springen zu lassen.

Damit kommen wir vielleicht zu dem wichtigsten Punkt: Ist eine Akzeptanz der Kunden für einen Digitalen Agenten realistisch und wenn ja, sind diese auch für alle Kundenanliegen sinnvoll?

Trends zeigen, dass Systeme wie Alexa oder SIRI und andere Sprachportale, also reine Informationssysteme eine hohe Akzeptanz genießen. Zeitgleich werden bei Moves-and-Changes auch einfache Prozesse wie Adressänderung, Umleiten von Paketen, Flugumbuchungen, Terminierungen und ähnliche Transaktionen über KI und Digitale Agenten bereits gut angenommen.  

Andererseits werden bei aus Kundensicht kritischen Themen Gespräche mit einem Mitarbeiter präferiert, auch wenn diese ebenso auch im Selfservice bzw. Online abbildbar sind. 

Ein nicht zu unterschätzender Faktor bei der Langfristprognose ist zudem die Demographie. Während die Kundengruppen bis zu Generation X noch stark auf analoge Kommunikation setzt, steigt die Akzeptanz von KI-Systemen bei Generation Y/Millenials an und die zukünftige Generation Z und daran folgende kennen kein Leben ohne Internet und Social Media. Eine Akzeptanz von KI wird vermutlich in den nächsten Jahren ansteigen.

Zuletzt müssen auch die Auswirkungen für ein Unternehmen und Organisation bei einer Implementierung berücksichtigt werden:

  • Die Unternehmensprozesse und Prozesslogik inklusive der benötigten Schnittstellen zu den Systemen müssen klar definiert und beschrieben sein. Selbst kleinere Änderungen der Systemlandschaft dürfen nicht ohne vorherige Adaption des DA erfolgen. 
  • Um aus einer Omnichannel-Sicht ein einheitliches Kundenerlebnis zu schaffen, müssen zum Beispiel die etwaigen Onlineprozesse mit den aktuell von Agenten durchgeführten Tätigkeiten geprüft werden, um daraus eine Strategie abzuleiten, welche Themen in welcher Form über welche Kanäle zukünftig bearbeitet werden sollen. Beispiel-Szenarien können sein, dass 
  1. alle Kundenanliegen über Messaging oder Telefon zunächst über einen Bot oder Digitalen Agenten erfolgen und falls dort keine Lösung erzielt wird, im Anschluss zu einem Agenten weitergeleitet werden.
  1. bestimmte Themen nie über einen assistierten Kontakt erfolgen, sondern immer über einen humanen Agenten bedient werden.
  • Entscheidend hierfür ist auch, auf welchen Microsevices, Engine-Rules und Prediction Models eine zukünftig eingesetzte KI zugreifen soll bzw. daran selbstständig lernen darf. Hier spielt auch das Thema Datenschutz eine entscheidende Rolle.
  • Es werden neue Positionen und Rollen mit entsprechendem Skill-Set benötigt. Grundsätzlich ist ein Digitaler Agent nicht viel anders als ein humaner Agent zu betreuen. Ein Betreuer muss analog einem Teamleiter regelmäßig die Output-Performance messen, Gesprächsaufzeichnungen und Ableitungen zur Verbesserung machen. Diese müssen jedoch der Maschine „beigebracht“ werden und somit wird hier eine neue Verantwortlichkeit benötigt. Gleichzeitig braucht man auch eine Verantwortlichkeit Interface zu den humanen Agenten um Fehler der Maschine und Optimierungspotenziale zu ermitteln.
  • Die interne Kommunikation insbesondere bei der Arbeitnehmervertretung und den betroffenen Mitarbeitern ist für eine Akzeptanz wichtig und es sind Ängste, Befürchtungen und Befindlichkeiten vor einem Einsatz auszuräumen.
  • Last, but not Least muss man noch stärker als jetzt Backup-Sicherungen für etwaige Technikausfälle der KI Systeme einplanen. Fällt beispielsweise eines der genutzten Frontend- oder Backend-Systeme aus, können humane Agenten zumindest auf Basis der verbliebenden vorliegenden Informationen Kundenanliegen am Telefon bearbeiten. Hier scheitern dann Digitale Agenten. 

Die Entwicklung in der Digitalisierung des Customer Service schreitet immer weiter voran und nach den ersten Schritten in Richtung KI ist ein Digitaler Agent der nächste logische Schritt. Analog zu den bisherigen Neuerungen wird auch diese zunächst vereinzelt und im Nachgang immer stärker ihre Nische im Kundenservice-Portfolio finden. 

Dies wird nicht ohne Auswirkungen auf Kundenservice-Strategien und die internen Organisationen erfolgen und man sollte daher die weitere Entwicklung dieser Systeme im Auge behalten. Eine disruptive Komplettablösung der menschlichen Kundenservice-Mitarbeiter ist auf Grund der angeführten limitierenden Faktoren derzeit noch nicht erkennbar.

Sofern bereits existierende KI-Systeme für Online- und Non-Voice-Kanäle in Ihrer Organisation bestehen, kann für bestimmte Use-Cases der Einsatz von Digitalen Agenten eine sinnvolle Ergänzung sein und die humanen Mitarbeiter sind insbesondere für die Bereiche zu schulen und entwickeln, in denen der Faktor Mensch den Unterschied macht.

Quellen: 

*Masahiro Mori „Bukimi No Tani” (1970)

 

Carlos Carvalho (Berater)
junokai

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