Um es vorab zu sagen: Nearshoring ist ein umfangreiches und komplexes Thema. Es kann und soll deshalb in einem eher kurzen Tipp der Woche natürlich nicht umfassend beleuchtet werden. Freuen Sie sich deshalb darauf, dieses spannende Thema immer wieder in weiteren Tipps der Woche zu entdecken, in denen wir einzelne Aspekte genauer erörtern. An dieser Stelle soll zuerst einmal ein grundlegender Überblick gegeben werden.
Robuste Konjunktur in Deutschland: Fluch und Segen zugleich
Januar 2019: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist auf dem tiefsten Stand seit der Wiedervereinigung. Die Löhne legten im dritten Quartal so kräftig zu wie seit sieben Jahren nicht mehr, in den neuen Bundesländern noch stärker als im Westen. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) erwartet ähnliche Entwicklungen auch für 2019. Und der gesetzliche Mindestlohn ist ab Januar 2019 auf 9,19 EUR festgesetzt.
Die Customer Service Branche spürt die Herausforderungen, die damit einhergehen, mehr als deutlich. Der anhaltend starke Konsum bedeutet in vielen Branchen: Viele Kunden, viel Beratungsbedarf, viel Servicebedarf (dass zugleich an unterschiedlichen Wegen der Kontaktreduzierung durch Digitalisierung, SelfService usw. gearbeitet wird, hat zwar zugleich parallele, gegenläufige Auswirkungen, soll aber heute nicht Thema sein). Sowohl in Inhouse-Einheiten als auch bei den Dienstleistern zeigt sich aber seit einigen Jahren: Die Rekrutierung von Mitarbeitern (erst recht von geeigneten bzw. qualifizierten) wird immer schwerer. Oftmals ist es für Unternehmen schon nicht mehr möglich, auch nur die natürliche Fluktuation auszugleichen.
Viele Kandidaten, die noch vor einigen Jahren „mal im Call Center gejobbt haben“ und die aufgrund ihrer oftmals guten Qualifizierung auch hohes Potenzial für die klassische Quereinsteiger-Karrieren in Fach- und Führungslaufbahnen hatten, arbeiten heute aufgrund des arbeitnehmerfreundlichen Arbeitsmarktes wieder in „richtigen“ Berufen und stehen dem Customer Care Markt nicht mehr zur Verfügung.
Nearshoring in (Süd)Osteuropa: Nicht immer billiger, aber verfügbar und sehr gut qualifiziert
Es ist kein neues Thema. Seit einigen Jahren schon sind Länder wie Polen, Tschechien, Bulgarien oder Rumänien interessante Ziele, um einzelne Aufgaben oder Abteilungen zu verlagern. Nicht nur die klassische Customer Care Branche tut das. Kaum ein großes europäisches Unternehmen, das nicht längst ganze Backoffice-Abteilungen wie z.B. Finance, Buchhaltung oder HR-Verwaltung im Nearshoring betreibt. Die fortschreitende Digitalisierung und damit der Wegfall der klassischen Ortsgebundenheit von Arbeitsplätzen unterstützen diese Entwicklung, ebenso die Öffnung des ehemaligen Warschauer Pakts nach Westen und nicht zuletzt die EU-Osterweiterung.
Doch waren es vor wenigen Jahren noch vor allem die deutlich geringeren Kosten für Arbeit und Facility (und oftmals auch die im Vergleich zu Deutschland weniger komplexen gesetzlichen Rahmenbedingungen), so rücken heute andere Faktoren in den Fokus. Denn die typischen Nearshoring-Ziele zeichnen sich heute im Vergleich zu Deutschland vor allem durch zwei Faktoren aus: Zuerst einmal sind noch ausreichend Kandidaten auf den Arbeitsmärkten vorhanden. Und diese sind – zu denselben oder geringeren Kosten – meist besser qualifiziert und darüber hinaus auch oft noch motivierter als im schwierigen Markt Deutschland. Dazu kommt, dass in vielen Ländern das Gehaltsniveau immer noch signifikant niedriger ist als in Deutschland. Hochqualifizierte Customer Care Mitarbeiter in Siebenbürgen oder Sofia verdienen heute ca. 30-40% weniger als schlechter qualifizierte Mitarbeiter auf vergleichbaren Stellen in Deutschland.
Die Regionen, an die man als Deutscher beim Stichwort Nearshoring üblicherweise denkt, sind
Jahrelang waren auch die Türkei und hier insbesondere Istanbul das Hauptziel von Nearshoring-Aktivitäten deutscher Firmen. Seit die politische Lage, auch für Ausländer, in der Türkei jedoch problematisch geworden ist, hat sich das Interesse aus nachvollziehbaren Gründen deutlich abgekühlt.
Noch nicht so im Fokus, aber als „Emerging Markets“ für Nearshoring mit großen Potenzialen und spannenden Möglichkeiten trotzdem zu nennen:
Mit einigen dieser Regionen werden wir uns in weiteren Tipps der Woche genauer auseinandersetzen. Eine soll im Folgenden etwas näher beleuchtet werden, mit dem Fokus auf deutschsprachigen Services:
Nearshoring-Standorte in Polen (Oberschlesien)
Oberschlesien, im Süden von Polen in den Woiwodschaften Opole und Schlesien gelegen, ist eine der Regionen mit dem historisch bedingt größten Anteil Deutsch sprechender Einwohner Polens. Das Lohnniveau für sehr gut qualifizierte Service-Mitarbeiter (mit Studium) liegt zwar ungefähr auf dem Niveau Deutschlands, aber sowohl Verfügbarkeit als auch Qualifikation machen Polen attraktiv. Für viele junge Polen mit Hochschulabschluss ist eine Tätigkeit im Customer Service ein spannender und interessanter erster Einstig in die berufliche Karriere. Sie sind meist nicht nur hervorragend ausgebildet, sondern auch hochqualifiziert. Neben Deutsch wird vor allem Englisch weit verbreitet gesprochen.
Drei Städte sind aufgrund ihrer Rahmenparameter interessant:
Viele Herausforderungen, aber interessante Optionen
Nearshoring in Ost- oder Südosteuropa oder auf dem Balkan bietet – speziell in der Welt des Customer Care – viele interessante Optionen. Vor allem die Kosten, die Verfügbarkeit und die höhere Qualifikation und Motivation der Bewerber sind wichtige Argumente.
Selbstverständlich zeigen sich aber auch neue Herausforderungen. Sprachkenntnisse aus einem Germanistikstudium allein reichen nämlich nicht aus, um guten Service zu bieten. Ob der deutsche Kunde eine gutes Serviceerlebnis hat, hängt mit vielen anderen Faktoren zusammen. Akzente und Ausspracheprobleme auf beiden Seiten können den Dialog erschweren. Mangelnde Kenntnis über deutsche Servicekultur und explizite Kundenerwartungen können ebenso Hindernisse darstellen wie das rein subjektive, fachlich nicht begründete Gefühl von Anrufern, dass ein Servicemitarbeiter mit polnischem oder rumänischem Akzent keinen so guten Service bieten würde.
Viele dieser Herausforderungen kann man lösen. In manchen Tipps der Woche in den nächsten Monaten werden Sie mehr darüber lesen.
-Gerhard Klose (Senior Berater)
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